Christi Himmelfahrt

Betrachtung zum Gemälde von Pieter Coecke van Aelst, entstanden 1542 in Antwerpen, jetzt im Stadtmuseum Simeonstift Trier.

Datum:
Do. 2. Mai 2024
Von:
Kurt Josef Wecker
Christus ist nicht zu halten! Ein vorübergehender Augenblick, den der flämische Renaissancemaler Pieter Coecke van Aelst (1502-1550) und seine Werkstatt wohl im Jahre 1542 in Szene setzen. Nur eine Momentaufnahme, die Visualisierung des Bibelverses aus der Apostelgeschichte 1,9, der Augenblick eines Ortswechsels Jesu. Und wir sind mitten drin, haben keinen distanzierten Zuschauerplatz. Das Geschehen des Himmelfahrtstages können wir uns genauso wenig vorstellen wie das Ereignis der Auferweckung des Gekreuzigten. Das Gemälde ist ‚nur‘ ein Versuch, das Unanschauliche anschaulich zu machen. Das hochformatige, beinahe pyramidenförmig aufgebaute Bild mit dem steilaufragenden moosbedeckten Felshügel reißt uns in eine gewaltige Aufwärtsbewegung und in das emotionale Gefühlschaos einer ‚hinterbliebenen‘ Kirche hinein, der die Himmelfahrt ihres Herrn buchstäblich über den Kopf wächst. Im unteren Teil des Gemäldes sehen wir das Bild einer Kirchenkrise: Kirchenmänner, beschwert von der Schwerkraft; erdenschwere Menschen in der Tiefe, sprachlos vor dem, was sich in der Höhe vollzieht. Stellen wir uns den Ort des Ereignisses vor!  Die Zurückbleibenden stehen auf dem Ölberg oder bei Bethanien (Apg 1,12 und Lk 24,50). Im Tiefenraum des Gemäldes ist eine Fernlandschaft, eher eine flandrische Stadt am Fluss als die Silhouette von Jerusalem, erkennbar. Meisterhaft versteht es der Künstler, das subjektive, psychologische Erleben der Jüngergruppe darzustellen, die Auswirkung Seiner Erhöhung, den - biblisch allerdings nicht überlieferten – Trennungsschmerz, die Bitte um Nähe. Ja, unsere Blicke werden von unten nach oben gezogen. Dorthin ist er unterwegs. „A-dieu“, Jesus! Geh zu Gott, deinem und unserem Vater! Doch das göttliche Woraufhin, auf das alles hinausläuft, bleibt jenseits des Bildes. Das Mysterium bleibt gewahrt. Die Wolke entzieht Jesus unseren Blicken. Sie erinnert an die Verborgenheit Gottes, in die der Sohn heimkehrt, an das unzugängliche Licht (1 Tim 6,16; Kol 3,3), in das der Auferstandene wie auch der Verklärte eintaucht. Weder die Jünger noch wir sehen das Ziel dieser Hinaufbewegung Jesu. Christus wird emporgehoben von diesem auffallend herausragenden Felsen, und die Jünger, zusammengedrängt und aufgeregt gestikulierend am Fuße des Felsens, haben das Nachsehen.
Einige dieser Himmelsgucker blicken gebannt auf die Fußsohlen des ‚in der Luft hängenden‘ Christus und den unteren Teil seines Gewandes. Der Herr entfernt sich. Uns wird nur der entschwindende Christus gezeigt, nicht das „Haupt“ Christi, nicht die Maiestas Domini oder das Platznehmen des Erhöhten zur Rechten des Vaters (Mk 16,19). Dieser von dem flämischen Künstler gewählte Typus der Himmelfahrtsikonographie ist seit dem 11. Jahrhundert bekannt und besonders in der Renaissancezeit verbreitet: Den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Betrachtern dieses Bildmotives war vielleicht der liturgische Brauch vertraut, am ‚Auffahrtstag‘ eine Christusfigur mit einem Seil durch ein Loch in der Kirchendecke verschwinden zu lassen. Mit den Jüngern sehen wir den Füßen des Herrn nach, die bald in der Wolke ‚stecken‘: Eine ungewollte Komik, Ausdruck der durchaus gekonnt inszenierten Hilflosigkeit, die Erhöhung des auferweckten Christus ins Bild zu setzen. Er – am Rand des Verschwindens. Ein transitorischer Moment: Gleich werden auch diese Füße verschwunden sein. Die von Maria aus Betanien gesalbten (Joh 12,3), die von den Salbfrauen nach Ostern verehrten Füße Jesu (Mt 28, 9) sind das Wenige, das von Ihm gerade noch sichtbar ist. Dieses Motiv ist Ausdruck der österlichen Grenzüberschreitung: ER überragt jedes Bild, das man sich von Ihm macht. Und darum ist das etwas unbeholfen wirkende Detail des Corpus Christi zutiefst sachgemäß. Himmelfahrt ist ein Fest, das unser Fassungsvermögen übersteigt, weil Er nicht zu fassen ist. Die Wolke (Mk 9,7) verbirgt ihn.
Fortan ist Christus der Verborgene, der wunderbar Fernnahe. Wir wenden uns von den Füssen Jesu ab und schenken unsere Aufmerksamkeit der leidenschaftlich bewegten Apostelgruppe, ihrem Staunen über das Widerfahrnis, ihrer Klage, ihrer Melancholie, ihrer Fassungslosigkeit, ihrer Überforderung. Sie leiden unter Entzugserscheinungen. Jeder der Jünger zeigt, je nach Temperament und Gefühlslage, seinen Schmerz anders. Heftige emotionale Bewegungen und Gesten bringt der Antwerpener Manierist in Szene. Die Apostelköpfe unterscheiden sich physiognomisch voneinander. Wir sehen keine zum Segen erhobenen Hände Jesu, sondern die ins Leere gehenden Arme ratlos gestikulierender Jünger. Was gibt es heute zu feiern? Ein Abschied, dem die frühe Kirche unter Schmerzen beiwohnt. Bedenken wir: ‚Eigentlich‘ haben die Jünger bereits den Segen des Herrn hinter sich, und trotzdem bleiben sie verstört zurück. Noch sind keine Engel zu sehen, die das Erstarren der „Viri Galilaei“ zu Salzsäulen auflösen und den verheißungsvollen Trost zusprechen werden.
Wir Betrachter sind im Bilde, werden hineingezogen in den Moment des Entschwindens Christi.  Findet sich darin unsere zum Himmelfahrtsfest versammelte Gemeinde wieder? Das Fehlen der Engel (Apg 1.10f) irritiert. Wo sind sie, die Boten des Himmels, die weiß gekleideten Deuteengel, die trösten, neue Wege weisen und dieser Abschiedsszene einen Drehpunkt hinein in die Freude geben? Diese Gesandten des Himmels sind nicht im Bilde. Doch kämen diese Verkündigungsengel nicht dazu, dann bliebe der Kirche zu guter Letzt nur der wehmütige Blick auf den entschwindenden Christusleib. Nur von außen kann der Stimmungswechsel bewirkt werden. Freude können wir uns nicht einreden, sie muss uns von anderswoher nahegelegt werden. Können wir uns freuen, dass Er die Schwerkraft überwindet und nun frei ist von dem, was uns auf Erden festhält? Gönnen wir ihm, dass er nun die Perspektive des Himmels gewinnt und den Überblick hat? Wünschen wir uns das auch zuweilen, einfach in eine Wolke abtauchen und entschweben zu können? Ohne die von den Engeln bewirkte Blickwendung stände die Kirche verlegen und ratlos vor dem Fest des „Auffahrtstages“; und die Welt machte sich am ‚Vatertag“ einen eigenen banalen Reim aus dem Mysterium.
Maria ist unter den Aposteln. Ihr häufiges Dabeisein auf den Himmelfahrtsdarstellungen verdankt sich der frommen Vorstellungskraft der Maler, da die Apostelgeschichte erst nach der Erhöhung Jesu die Präsenz der Gottesmutter im Jüngerkreis bezeugt (Apg 1,14). Maria als Betende, in feierlichem Stille-Sein angesichts dieser gewaltigen Aufwärtsbewegung, kniend, wehrlos, selbstvergessen, gefasst, in ‚ernster Freude‘, wunderbar aufmerksam. Sie ist der ruhende, andächtige Pol, dargestellt mit auffallend bleichem Inkarnat. Sie nimmt sich auch in ihren Emotionen zurück. Inmitten der nach Verstehen suchenden, streitenden Kirche‘ bleibt sie das Sinnbild der schon vom Geist Christi erfassten, anbetenden Ecclesia. Sie ist diejenige, die die Erhöhung ihres Sohnes innerlich mitvollzieht, seine Erhöhung geschehen lässt, seinen Segen empfangen hat. Sie erkennt:  „Alles hat er (der Vater) unter seine Füße gelegt“ (Hebr 2,8; 1 Kor 15,27).
Das Evangelium betont die freudige Rückkehr der Jünger nach Jerusalem (vgl. Lk 24,52), die uns Hörer des Wortes eher in Erstaunen versetzt. Der Künstler akzentuiert – vielleicht wirklichkeitsnäher – die Trauer in der Abschiedsstunde, den Schmerz aufgrund der Entfernung Jesu. Das biblische Ostern kam ganz ohne Halleluja aus: Wir hören von Frauen auf der Flucht, sich isolierenden Aposteln, einer verweinten Maria Magdalena, sich depressiv dahinschleppenden Emmausjüngern. Die großen Geheimnisse des Glaubens leuchten nicht schlagartig ein. Es braucht Zeit, bis die Freude in die Herzen einsickert und die Jüngerkirche begreift, dass Jesu Weggang Gutes bedeutet (Joh 16,6).  Eine Kraft wird kommen, der Heilige Geist, der mehr ist als Antriebsenergie für atemlose Männer, mehr als ein Motivationsschub für Erschöpfte, die sich als Ersatzleute eines verschwundenen Christus missverstehen. Es dauert, bis die Kirche erkennt, warum ihr Herr gehen musste, um ihr Allernächster zu bleiben. Gerade in seinem Weggang erweist er sich als unersetzlich. Dieses Himmelfahrtsbild beschönigt nichts, es akzentuiert eher den Abschiedsmoment. Auch deshalb ist es so menschlich, weil sich die Freude über Jesu neue Präsenz eben nicht plötzlich einstellt. Noch sehen diese Männer nicht wie Verstehende und kraftvolle Zeugen aus. Ich muss die schmerzliche Erfahrung, dass Er „erst mal weg“ ist, mit der geistgeschenkten Gewissheit verbinden, dass Er mir kraft seines Weggangs „näher ist als die eigene Halsschlagader“ (vgl. Koran Sure 50,17). Der Gehende ist der Bleibende, der uns Nahegehende und der Wiederkommende. Es ist schwer zu verstehen, dass die Stunde der Erhöhung Christi kein Abschied ist, auch kein „Abschied auf Zeit“. Gottes Trostgeist muss der Kirche zugeschickt werden, damit sie erkennt, dass Er nicht mitten aus ihrem Leben gerissen wurde. Es wäre frustrierend, wenn die Kirche „entkernt“ zurückbliebe auf dem harten Boden der Welt und verkrampft irgendeine abstrakte „Sache Jesu“ fortzuführen versucht oder eigenmächtig die Lücke füllt, die Christus hinterließ. „Aus dem Auge, aus dem Sinn“. Solch eine Gedächtnisschwäche darf die Kirche nicht erfassen!  Was jetzt? Wie wird sich eine erdenschwere Kirche neu sortieren? Sie ist nicht die traurige Erbin des „Neuen Testamentes“ und nicht der fromme Gedächtnisverein, der dem guten Mann von Nazareth ein ehrendes Andenken bewahrt. Fatal wäre es, wenn sich die Apostel mit dem Mut der Verzweiflung als Ersatzleute Jesu begreifen würden, die den Unersetzbaren ersetzen wollen. Suchend und fragend hoffen wir auf ein „unverhofftes Wiedersehen“ und Jesu Realpräsenz.  Unendlich mehr bleibt von ihm als seine durchbohrten Füße; mehr bleibt als die seltsamen versteinerten Spuren des letzten Fußabdruckes Jesu in der Himmelfahrtsmoschee auf dem Ölberg, den die Pilger andächtig betreten. Nein, die Kirche bleibt nicht mutterseelenallein – was für ein Wort! – zurück, als müsse sie sich nun neu sortieren in der Zeit „nach“ Christus.
Eine Geisteskraft muss kommen, die eine auf sich selbst zentrierte Kirche weckt und in das Hier und Jetzt zurückholt. Christus muss sich nach seiner Entrückung neu vergegenwärtigen und uns daran erinnern, dass uns allen hoffentlich eine Himmelfahrt bevorstehen wird. Gottes Geist muss uns himmelwärts ausrichten, ohne dass wir dabei die Bodenhaftung verlieren. Das fast 500 Jahre alte Bild zeigt keine triumphierende Kirche, keine feuchtfröhliche Männerpartie, keine selbstbewusste Jüngerschar, die an der Macht des Erhöhten praktiziert, auch keine sich selbst Mut einredende Kirche in der Aufbruchsstimmung des „Jetzt erst recht“, sondern einen verstörten Haufen Zurückgelassener. Ein trauriger Anblick untröstlicher Apostel, angewiesen auf einen Trost, der nicht von dieser Welt ist.
Jesus ist im Übergang begriffen. Gerade weil Christus ‚im Himmel‘ ist, ist seine sakramentale Gegenwart ‚unten‘ so überlebensnotwendig. Nie sind wir mehr auf die Nähe Christi angewiesen als seit dieser Zäsur, welche das Himmelfahrtsfest markiert. Christi Himmelfahrt ist eines meiner Lieblingsfeste, auch wenn es sich zusehends verflüchtigt. Denn es lehrt eine neue Gestalt der Nachfolge - dem emporstrebenden Christus nach. Fortan wird der Kirche das Glauben schwer gemacht. Sie muss erwachsen glauben und ihn anderswo suchen, weil er nicht mehr in der Reichweite unserer Sinne ist. Christi Himmelfahrt gibt zu denken, denn an diesem Fest geht der Wegweiser entschieden vertikal nach oben, wir werden in eine Bewegung versetzt, die uns hoffen lässt auf das, was droben ist. Diese Zuspitzung zum Himmel hin, dieses schmerzliche Vermissen des Erhöhten, meine hoffentlich noch nicht stillgelegte Himmelssehnsucht – all das ruft dieser Tag wach.  Die Jüngerkirche auf diesem Gemälde – mein Wunschbild der gegenwärtigen Kirche: Es wäre ehrlich, wenn sie ihm ratlos hinterherschaut, wenn sie in seine neue Gegenwartsform einwilligt und es zulässt, wie Christus sich unserem Zugriff entzieht. Wir können die Gegenwart Christi nicht erzwingen und ihn nicht funktionalisieren für unsere Zwecke, nicht einfangen in unsere eigenen Sätze und Interessen. Er ist – bei aller Liebe - nicht festzuhalten (vgl. Joh 20,17).  ER ist gerade nach seiner Erhöhung unersetzbar. Und Kirche ist nicht Herrin über sich selbst. Wir gehören zu den ihn Loslassenden und ihn gerade darum neu Empfangenden. Wir sind angewiesen darauf, dass endlich die Engel Gottes zu uns treten, um uns zu entschlüsseln, dass Christus in das Geheimnis des Vaters eingetreten ist und Wege findet, von dorther unser Allernächster zu sein. Maria ahnt, wer auf die Apostel zukommt, wer uns fehlt: Der Heilige Geist, der uns geistesgegenwärtig leben lässt.
Kurt Josef Wecker, geboren 1961, Pfarrer im Wallfahrtsort Heimbach und in sieben weiteren Pfarren, Beauftragter für Wallfahrtspastoral im Bistum Aachen und Herausgeber einer Predigtzeitschrift.